31.10.2011

milchblau

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die fahnenmasten schlagen
ihr ewig gleiches lied
in den wind, der auf der rückseite
den vögeln ins gefieder fährt
und immerfort
in eine richtung weist:
zur weichsten haut
die auf deinen wangen liegt
und in den händen
leise falten wirft
wie ein fischernetz
aus geschlossenen augen
die wimpern geschmiegt
in den luftzug
der die fliegen fortträgt
in den winter


judith sombray
gefunden bei fixpoetry

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30.10.2011

herbst.

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herbst sagst du
aber ich sage dir
nicht oktober nicht november
du musst einen neuen kalender erfinden
ein andres alphabet
eine sprache die einhalt gebietet
denn die zeit fällt
fällt ins unabsehbare
und wir fallen mit ihr


rose ausländer

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29.10.2011

lass...

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lass den wind vorüber wehen.
stell ihm keine fragen.
sein sinn ist nur
der wind zu sein, der weht ...


fernando pessoa

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28.10.2011

älterwerden

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zögern mitten im satz

nachfragen wenn man glaubt
es verstanden zu haben

es nicht mehr eilig haben
mit dem wissenwollen

einen stein ein glas eine hand
länger festhalten als nötig

den ärmel des gegenüber beim reden berühren
zu spüren man ist noch da

ein buch einen blick eine haut verlieren
und nicht mehr finden wollen

erinnern statt sehnen

den gedanken: das alles ist nach mir noch da
trainieren wie einen muskel

gefühl als wäre jemand im zimmer


ulla hahn
[aus: poesie der lebensalter – reclam]
gefunden bei wildgans

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27.10.2011

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verzweiflung


tief unten in der erde
nagt sie an den wurzeln
langsam aber zielbewusst
bis eines tages
- ich weiss dass er kommt -
sie mich mittendurch genagt hat
und ein teil von mir
rast wie von sinnen
auf und davon
verschwindet durchs küchenfenster

der rest bleibt zurück
und macht den abwasch zuende.


ingibjörg haraldsdóttir
[aus: stechäpfel, gedichte von frauen aus drei jahrtausenden - reclam bibliothek]

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26.10.2011

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im herbst sammelte ich alle meine sorgen und vergrub sie in meinem garten. und als der april wiederkehrte und der frühling kam, die erde zu heiraten, da wuchsen in meinem garten schöne blumen, nicht zu vergleichen mit allen anderen blumen. und meine nachbarn kamen, um sie anzuschauen, und sie sagten zu mir: willst du uns, wenn der herbst wiederkommt, zur saatzeit, nicht auch samen dieser blumen geben, damit wir sie in unseren gärten haben?


khalil gibran
gefunden mit diesem wunderbaren herbstbild bei gabi anna

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25.10.2011

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foto: marianne rieter




aber dann war doch nichts weiter geschehen
als dieses herzaufgehen, sperrangelweit -


elisabeth binder

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24.10.2011

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lied im oktober


alle weiszgelockten
wolken wiegen federnd
an die wiese, kleine
herbstzeitlose lichtet
mildeduftend durch den
tag : irgendwo im blauen
klaren lächelt leise
eine stirn


friederike mayröcker
[aus: gesammelte gedichte - suhrkamp]

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23.10.2011

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die gegenwart ist im verhältnis zur
vergangenheit zukunft ebenso wie die
gegenwart der zukunft gegenüber
vergangenheit ist. darum, wer die
gegenwart kennt, kann auch die
vergangenheit erkennen. wer die
vergangenheit erkennt, vermag
auch die zukunft zu erkennen.


lü buwei
gefunden in der wortgarage

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22.10.2011

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und das alles
ist selbstverständlich -
wie die stille
im kopf einer note.


rainer malkowski

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21.10.2011

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nacht


die lamellen stehen offen.
die stadt wirft lichtgirlanden herein
legt scheinkronen auf
vergoldet den tüll.

das glück wird sichtbar
durch einen spalt.
der atem, der dich anfliegt
zieht uns hindurch.


klaus merz
[aus: die lamellen stehen offen, frühe lyrik 1963-1991, werkausgabe band 1, herausgegeben von markus bundi – haymon]

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20.10.2011

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marianne rieter

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19.10.2011

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am rande des abgrunds klammert er sich an bleistifte.


elias canetti

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18.10.2011

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foto: marianne rieter




so wie keine blume ohne farbe gedacht werden kann, so ist kein mensch ohne poesie.


sophie bernhardi

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17.10.2011

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i vecchidie alten


li vedo passare
come un sogno
sotti il peso
delle loro primavere
i vecchi
pieni di segreti
nascondono il loro pensiero
sotto le rughe intelligenti
e il silenzio dei loro passi
è un affronto
al fragore confuso
del mondo


wie ein traum
seh ich sie vorüberziehn
unter dem gewicht
ihrer lenze,
die alten
voller rätsel
die gedanken geborgen
hinter klugen falten
und die ruhe ihrer schritte
ein hohn
dem dunklen lärm
dieser welt.
giuseppe godenzi
[aus: sbrinzlas funken scintille, gegenwartslyrik aus graubünden -
pro lyrica, schweizerische lyrische gesellschaft, mevina puorger
]


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15.10.2011

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wenn ich nur schreiben könnte
dann wär es gut
so aber bin ich leer
als hätt ich mich schon
ausgeschrieben

es kann sein
dass ich nun andere brücken
bauen muss
ich brauche eine neue sprache
für mein neues ich

ach - vieles
möcht ich gehen lassen
wohin es will
ich möcht verlieren
was ich nie besass


gabriele nutz
[aus: fiel mir deine seele ins herz, gedichte - k. fischer]

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14.10.2011

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ich schalte, um meine 'bewusstseinsmaschine' in gang zu bringen, auf erinnerungs-
punkte irgendwelcher vergangenheit, bringe dadurch, wenn es gelingt, etwas ganz
intensiv in die mitte meines bewusstseins, wo es lebendig dasteht, zu sehen, zu
hören, zu riechen, zu betasten, in einer eigenbeweglichkeit, die es aus dem zustand
des eingebettetseins in einen erinnerungsablauf befreit. es steht für sich selbst da,
... statisch, und zugleich in einem strahlungskranz von assoziationsmöglichkeiten.

friederike mayröcker

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13.10.2011

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12.10.2011

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so tritt denn schliesslich alles ein
und es ergibt sich folgerichtigkeit.
wie merkwürdig wäre, träten zwei ereignisse
auf einmal gleichzeitig ein.

rätselfrage: und wenn statt zweier ereignisse
acht seifenblasen einträten?
antwort: dann würden wir uns natürlich hinlegen.

diese antwort war klar und kurz.
ein mensch wurde in papier eingewickelt.
es gibt kein papier. der winter ist da.


daniil charms
[aus: die wanne des archimedes. gedichte – edition korrespondenzen]

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11.10.2011

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es ist wahr, dass es um mitternacht
nun kalt wird in den wäldern des sommers,
aber der mond rundet sich wieder.

es ist wahr, dass um mitternacht
die sterne von zweig zu zweig springen
sehr neugierig
und immer noch auf der suche nach heine.

es ist wahr, dass sich um mitternacht
der himmel überschneidet
vor lauter liebe und vergänglichkeit.

es ist wahr, dass ich gehe, und alles geht mit,
die jungen bäume und auch die alten
und die bänke darunter
die tagsüber so still stehn.

ich gehe und gehe
und verändere die geographie.


elisabeth borchers
[aus: gedichte - suhrkamp]

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10.10.2011

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glück ist selbstgenügsam. es braucht keinen kommentar.
es kann in sich zusammengerollt schlafen wie ein igel.


robert walser

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09.10.2011

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waagrecht senkrecht schräg
fällt heute der regen
zeit dazwischenzufahren
mit einem roten pinselstrich


werner lutz
[aus: die mauern sind unterwegs, gedichte - ammann]

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08.10.2011

06.10.2011

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salzbleich


wäre ich eine taube, ich hätte kein gesicht. ein
schnäbelchen nur und zwei punktgrosse augen.
wäre ich eine taube, ich wüsste nichts. bliebe
ein nacktes, ein immernacktes ich. nur in
manchen träumen triebest du mit dem
strandgut an das ufer. läge ein salzblasser
körper zwischen tang und feuerstein.
geschliffenes glas an zehen und scheitel. mit
den klauen kratzte ich diesen umriss nach. ein
halbmond auf deinem gesicht. dann böte ich
gurrend meine gurgel feil.
und rupfte man mir die federn aus, bliebe mir
ein feines knochengerüst zum wandeln
zwischen dachziegeln und lehm. zum picken
mit knöchernem schnabel. zum flügelrasseln
und zum zeichensetzen in feinem waldmulch.
als letztes noch würde ich mir ein
menschengesicht schnitzen, eine stirn, zwei
augen, nase, mund. ich schnitzte mir ein
schiefes lächeln hinein, ein grübchen und
eine, nur eine einzige, ausgefallene wimper.


sünje lewejohann
[poetryletter 203 – fixpoetry]

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05.10.2011

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prinzip der kunst: mehr wiederfinden als verlorengegangen ist.


elias canetti

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04.10.2011

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03.10.2011

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sonne und mond sind auch nur laufgäste.


li po

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02.10.2011

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und das ungetane, das spuren hinterlässt.
auf einem randstein im gehege. restposten
jeder verwitterung. ohne hintergedanke
oder die blasse, tonlose nachricht darauf.

verlass ist auf felder, die brach liegen.
unser ort unscheinbar. eine digitale wolke
über herbstzeitlosen. immergrün. auf dem
bildschirmblick in die tiefe, der uns eigen ist.

in zeiten der wahrnehmung, in denen das
licht scheint. falschfarben der hände. die
sichtbar machen. hinter drahtlosnetzhäuten
oder den blinden flecken der sonne. wir halten

den regen für die zeichensprache der lebenden.
wir gehen von dingen aus, die haltlos sind, aber
speicherplatz haben. und wir lieben es, bäume
herunter zu laden. in deren zweigen wir spielen.


markus breidenich
gefunden bei fixpoetry

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01.10.2011

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foto: christiane b





herbstlicht speichern
und das, was uns bleibt
bevor die zeit wieder friert


marianne rieter

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