wäre ich eine taube, ich hätte kein gesicht. ein
schnäbelchen nur und zwei punktgrosse augen.
wäre ich eine taube, ich wüsste nichts. bliebe
ein nacktes, ein immernacktes ich. nur in
manchen träumen triebest du mit dem
strandgut an das ufer. läge ein salzblasser
körper zwischen tang und feuerstein.
geschliffenes glas an zehen und scheitel. mit
den klauen kratzte ich diesen umriss nach. ein
halbmond auf deinem gesicht. dann böte ich
gurrend meine gurgel feil.
und rupfte man mir die federn aus, bliebe mir
ein feines knochengerüst zum wandeln
zwischen dachziegeln und lehm. zum picken
mit knöchernem schnabel. zum flügelrasseln
und zum zeichensetzen in feinem waldmulch.
als letztes noch würde ich mir ein
menschengesicht schnitzen, eine stirn, zwei
augen, nase, mund. ich schnitzte mir ein
schiefes lächeln hinein, ein grübchen und
eine, nur eine einzige, ausgefallene wimper.
sünje lewejohann
[poetryletter 203 – fixpoetry]
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1 Kommentar:
Es ist so fein eingebettet, dass man zweimal hinschaut, bis man diesen gekratzten Halbmond ins Gesicht dem eigentlich friedfertigen Taubenbild zuordnet. Dann die Gurgel. Zuletzt wünscht sie sich doch ein Gesicht (nachdem alle Taubenvisionen abgeschlossen). Nicht viel Schaden genommen, Lächeln schief und eine ausgefallene Wimper.
Gefällt mir sehr.
Herbststürmische Grüße vom Niederrein,
Bess
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