12.11.2012

lied vom kindsein

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foto: marianne rieter




als das kind kind war,
ging es mit hängenden armen,
wollte der bach sei ein fluss,
der fluss sei ein strom,
und diese pfütze das meer.

als das kind kind war,
wusste es nicht, dass es kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle seelen waren eins.

als das kind kind war,
hatte es von nichts eine meinung,
hatte keine gewohnheit,
sass oft im schneidersitz,
lief aus dem stand,
hatte einen wirbel im haar
und machte kein gesicht beim fotografieren.

als das kind kind war,
war es die zeit der folgenden fragen:
warum bin ich ich und warum nicht du?
warum bin ich hier und warum nicht dort?
wann begann die zeit und wo endet der raum?
ist das leben unter der sonne nicht bloss ein traum?
ist was ich sehe und höre und rieche
nicht bloss der schein einer welt vor der welt?
gibt es tatsächlich das böse und leute,
die wirklich die bösen sind?
wie kann es sein, dass ich, der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und dass einmal ich, der ich bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?

als das kind kind war,
würgte es am spinat, an den erbsen, am milchreis,
und am gedünsteten blumenkohl.
und isst jetzt das alles und nicht nur zur not.

als das kind kind war,
erwachte es einmal in einem fremden bett
und jetzt immer wieder,
erschienen ihm viele menschen schön
und jetzt nur noch im glücksfall,
stellte es sich klar ein paradies vor
und kann es jetzt höchstens ahnen,
konnte es sich nichts nicht denken
und schaudert heute davor.

als das kind kind war,
spielte es mit begeisterung
und jetzt, so ganz bei der sache wie damals, nur noch,
wenn diese sache seine arbeit ist.

als das kind kind war,
genügten ihm als nahrung apfel, brot,
und so ist es immer noch.

als das kind kind war,
fielen ihm die beeren wie nur beeren in die hand
und jetzt immer noch,
machten ihm die frischen walnüsse eine rauhe zunge
und jetzt immer noch,
hatte es auf jedem berg
die sehnsucht nach dem immer höheren berg,
und in jeder stadt
die sehnsucht nach der noch grösseren stadt,
und das ist immer noch so,
griff im wipfel eines baums nach dem kirschen in einem hochgefühl
wie auch heute noch,
eine scheu vor jedem fremden
und hat sie immer noch,
wartete es auf den ersten schnee,
und wartet so immer noch.

als das kind kind war,
warf es einen stock als lanze gegen den baum,
und sie zittert da heute noch.


peter handke
aus "der himmel über berlin" - gesprochen und gesungen von bruno ganz (klicken für youtube link)
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2 Kommentare:

Sofasophia hat gesagt…

ich liebe dieses lied, diesen text. und mit deinem bild zusammen einfach nur wunderbar!
danke!

marianne hat gesagt…

vielen dank, sofasophia!!